ATTRACTOR

11CH-VideoKontrafaktur (Musik: Ludger Brümmer - „Dele“, 17:54) - 2012

 

 

Die Dramaturgie des Stückes "Dele" (lat.: "Zerstöre!") arbeitet mit langen Lautstärke-Rampen, die in Akzente kulminieren.

Zeichnen sich die Rampen durch eine kontinuierliche Veränderung von Lautstärke und Klangmasse aus, so verändert sich die Ereignisdichte während der kurzen Akzente dramatisch. Im Bruchteil einer Sekunde wechseln sich plötzlich mehr als zwölf verschiedene Klangstrukturen ab und erzeugen dadurch einen Moment extremer Dichte, in der sich die Spannung explosionsartig entlädt.


Die 11CH-Visualisierung/Kontrafaktur beruht auf BildMaterial, das dem Film "Erde" (1930) von Alexander Dowschenko entnommen wurde.

 

FEMBOT | ATTRACTOR

 

Fembot | Attractor sind zwei Multichannel-VideoKontrafakturen zu Musiken von Ludger Brümmer (Attractor) und Magnus Lindberg (Fembot). Die beiden Werke sind inhaltlich-thematisch eng verknüpft; beide wurden im Rahmen des Festivals NOW! 2012 (Thema: zurück nach vorn) uraufgeführt.

 

Das Verhältnis von Mensch und Maschine ist alt, komplex und oft beschrieben worden. Maschinen dienen der Erwirtschaftung unseres Wohlstands, sie bearbeiten Werkstoffe und beackern Felder. Darüber hinaus sind sie Symbole von Macht, ökonomischer Effizienz und - 'Fortschritt'. Letzterer bezieht sich interessanterweise auch auf die Tatsache, dass Menschen Maschinen bauen, die ihnen selbst immer ähnlicher werden. Offensichtlich besteht die humanogene ATTRAKTION darin, nicht nur dienstbereite Alltagshelfer (TRAKTOREN) zu konstruieren, sondern auch zur Kommunikation begabte Gegenüber herzustellen, die in der Lage sind menschliches Verhalten zu simulieren. FATAL ATTRACTIONS entstehen dann, wenn die nichtmenschliche Herkunft dieser Wesen im Verborgenen bleibt; unterhaltsame Katastrophen, wenn Gier, Sex und Gewalt ins Spiel kommen. Im (Spiel)Film haben Maschinen seit Anfang an bedeutende Rollen gespielt: In "Metropolis" (1926) von Fritz Lang spielt Brigitte Helm eine mechanische Femme Fatale - FEMBOT -, die Revolten auslöst; in Alexander Dowschenkos Film "Erde" (1930) wird ein simpler Trecker zum Auslöser für Umsturz und Gewalt. Beide Filme zeigen, so unterschiedlich sie sind, historische, d.h. längst vergangene Blicke in die Zukunft (- ein spätexpressionistischer deutscher Zukunftsentwurf muss naturgemäß völlig anders aussehen als ein sowjetischer, obwohl beide von gesellschaftlichen Umbrüchen handeln: vom sowjetischen Versuch konnte behauptet werden, dass "die Zukunft" mit ihm eingetreten war; der frühen deutschen Filmindustrie diente "die Zukunft" eher als Negativfolie, so dass die damalige Gegenwart als durchaus erhaltenswert charakterisiert werden konnte). Aus heutiger Sicht betrachtet sind die handelnden (Film)Protagonisten den Maschinen mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert, ob sie nun an sie glauben - und 'Fortschritte' von ihnen erwarten - oder durch sie ins Verderben gestürzt werden - mit klassischer Rettung in letzter Sekunde.

 

Der gegenwärtig-heutige Blick (aus dem Jahr 2012) zurück auf die Blicke unserer Ur|Groß|Eltern nach vorn, gibt auch Auskunft über die wechselvolle Geschichte von Hoffnung und Enttäuschung, Utopie und Scheitern, Aufbruch und Misslingen. Blicke wie diese (nämlich: ZURÜCK NACH VORN) erhellen - incl. der Tatsache, dass sie mitunter sogar zum Festival-Thema werden - unsere Gegenwart insofern, als dass sie dieser vor Augen führen wie genau, exakt, wahrheitsgemäß oder eben nicht unser utopi(sti)sches Erbe gepflegt wird, d.h. wie wir mit den Entwürfen umgehen, die sich als irreal, unmöglich oder zu-früh erwiesen haben. Aus der historischen Distanz fällt es leicht schnellhin Urteile über das Gescheiterte, das Misslungene und das Enttäuschende zu fällen. Man täte allerdings gut daran sich zu vergegenwärtigen, dass auch unsere Jetzt-Zeit irgendwann auf dem Obduktionstisch der Historiker und Medienkünstler landen wird. - Für die Gegenwart folgt daraus: Nichts altert so schnell, wird so brutal entzaubert und reizt so zum unanständigen Lachen wie Avantgardismen, die sich der eigenen historischen Relativität ('Periodizität') nicht bewußt sind - die aktuellen inclusive. - Die Stücke des heutigen Abends reagieren auf diese Tatsache - mittels IRONIE, REDUKTION und andare contro la CORRENTE. -

 

Dietrich Hahne - 2012