Vortrag zur Einführung in das Projekt MESSIAEN_PICT/DEPICT_04. Juni 2011, Philharmonie Essen

 

Guten Abend meine Damen und Herren,

 

der Titel des heutigen Programms lautet MESSIAEN_PictDepict. Dieser Abend ist dem französischen Komponisten Olivier Messiaen gewidmet, der sich Zeit seines Lebens nicht nur als Komponist und praktizierender Musiker verstand - über 60 Jahre schlug er die Orgel in der Pariser Kirche St. Trinité -, sondern der ebenso ein praktizierender Christ war, dessen Glaube in enger Verbindung stand zu seinem Künstlertum. Beide Selbstansichten - Künstler und Christ - sind wie bei kaum einem anderen Komponisten des 20. Jahrhunderts als untrennbare Einheit zu sehen: der Komponist war ohne den gläubigen Christ, der Katholik nicht ohne den Künstler denkbar. Diesem Umstand ist ein einzigartiges musikalisches Oeuvre zu verdanken.

 

Als Künstler war Olivier Messiaen in erster Linie ein ‚Ohren’-Mensch, dem Klang und dessen Konstruktion verpflichtet; aber - und das hat er in zahlreichen Interviews geäußert - auch die sichtbare Welt, bzw. das Medium, welches die Welt sichtbar werden lässt - das LICHT -, hat er in seine künstlerische Produktion mit einbezogen. Der Titel des heutigen Abends verweist somit auch auf die Tatsache, dass der Komponist für seine Musik VISUELLE Analogien entwickelte und diese sogar seinen Modi, Skalen und harmonischen Prinzipien analog strukturierte. Als Synästhetiker sprach er oft von den unterschiedlichen FARBEN, die er innerlich sah und die er unterschiedlichen Akkorden oder harmonischen Modellen zuordnete.

 

Zitat Messiaen: "Wenn ich Musik höre, sehe ich dabei entsprechende Farben. Wenn ich Musik lese (indem ich sie innerlich höre), sehe ich entsprechende Farben. Es handelt sich nicht um eine Wahrnehmung der Augen, in der Art der gefährlichen und monströsen Phantasmagorien, die etwa durch Meskalin hervorgerufen werden. Es handelt sich auch nicht um diese eigenartige Krankheit, die 'Synopsie' genannt wird und die eine Synästhesie in ihrer am häufigsten vorkommenden Form war: ein spontanes Zusammen-Gehen von Gesichts- und Gehörsempfindungen. Es handelt sich um ein inneres Sehen, um ein Auge des Geistes. Es sind wunderbare, unaussprechliche, außerordentlich verschiedene Farben. Wenn die Töne sich regen, verändern, sich bewegen, so bewegen sich diese Farben mit ihnen in fortwährenden Verwandlungen." (Das Zitat stammt aus einer Rede, die Messiaen anläßlich einer Preisverleihung in Amsterdam am 25. Juni 1971 hielt.)

 

Mit dem Kunstwort PictDepict erweitere ich die Messiaensche Synästhesie der abstrakten Farben um die des konkreten, erzählenden Bildes. "Pict" kann mit "Bild" übersetzt werden, "Depict" mit "Nichtbild", vergleichbar also mit dem musikalischen Gegensatz Klang <-> Pause. Im Englischen jedoch bedeutet "to depict" abbilden, womit also die Wiedergabe der realen, sichtbaren Welt in einem anderen Medium gemeint ist. Die semantische Vielschichtigkeit des Kunstwortes PictDepict verweist somit auf den visuellen Dreiklang Abstraktion-Abbild-Erzählung bzw. Kommentar.

 

Damit ist ein wesentlicher Teil meines eigenen Beitrags zum heutigen Abend benannt: mir geht es nicht um die Re-Inszenierung Messiaenscher LICHT-Vorstellungen - wie sollte dies auch gelingen -, sondern um eine eigenständige visuelle Komposition, die - ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorchend -, den Messiaenschen Klängen gegenübergestellt wird und diese - kommentierend - in einem neuen "Lichte" erscheinen lässt. Dabei verwende ich neben eigenen Naturaufnahmen überwiegend Dokumentaraufnahmen, die in der Zeit des Kalten Krieges, also zwischen 1945 und 1991 entstanden sind. Es sind Bilder, die Sie vermutlich von irgendwoher kennen, die Sie schon einmal gesehen haben und die inzwischen zum kollektiven Bilder-Gedächtnis des 20. Jahrhunderts gehören. Diese Bilder habe ich verändert, z.T. so, dass sie kaum noch zu erkennen sind, dann habe ich sie zu gleichsam musikalisierten Licht-Sequenzen zusammengefügt und anschließend spatialisiert, d.h. für diesen Raum hier auf 12 Videokanäle aufgeteilt. Es entsteht eine vielschichtige Komposition aus bewegtem LICHT, bei der die Grenzen zwischen ‚abstrakten Farben’ und ‚erzählendem Bild’ fließend ineinander verlaufen. In ihrer Gesamtheit kommentieren Bewegtbild, Montage, Erzählung und Raum die Gedankenwelt des frommen Franzosen.

 

Dessen Musik ist ebenfalls als Kommentar zu verstehen, oder größer noch, als klingendes Bekenntnis des Künstlers zum Glauben an die große Erzählung von der Menschwerdung Gottes, von der das Neue Testament berichtet und die in den Liturgien der christlichen Konfessionen wieder und wieder nacherzählt wird. Messiaens genialer künstlerischer Impuls verbindet beide Sphären: die des strahlenden LICHT-KLANGs mit der der großen ERZÄHLUNG von der Erlösung des Menschen durch Jesus Christus. Hierbei benutzte Messiaen mitunter extreme Metaphern: Ausgelöst durch die Betrachtung des Isenheimer Altars in Colmar, den Mathis Grünewald Anfang des 16. Jahrhunderts malte, vergleicht Messiaen die Auferstehung Christi mit der Explosion einer Nuklearwaffe. Zitat Messiaen: "An Grünewalds Auferstandenem fasziniert mich, wie er 'mit einem Schlag' dem Grab entsteigt, 'so wie das Ereignis sich ohne Zweifel in der Realität abgespielt hat. Christus war unvermittelt wieder lebendig. Und um diese totale Verwandlung auszudrücken, hat Grünewald das Licht benutzt; Christus reißt das Grabtuch mit sich weg, und eine Art Regenbogen bildet sich zwischen Christus und dem Grabtuch. Ein Emporschießen von Farben, die, vom Antlitz Christi ausgehend, das Grabtuch und den ganzen oberen Teil des Bildes überfluten. Die Wirkung ist verblüffend.' (...) Jesu Auferstehung, 'das bedeutendste kosmische Ereignis seit dem Schöpfungsakt, geschah plötzlich wie eine Atombombenexplosion. Das Grabtuch von Turin bezeugt es! Ich glaube daran, es erscheint mir nicht als Wunder, sondern als ein natürliches Phänomen: in Hiroshima fand man den Leib von Opfern auf Mauern photographiert wieder. Genau solch ein atomarer Schock war die Auferstehung. Christus erhob sich mit einem Mal und sein Abbild prägte sich auf das Leinentuch. (...)" Zitat Ende. - Zentrale Begriffe der Messiaenschen Lichtästhetik sind: gifle de Lumière (Licht-Ohrfeige), Kabod (das hebräische Wort für Licht-Wucht), Jaillissement (Emporschießen) und L'éblouisement (Überwältigung, Geblendet-Sein).

 

Die Metapher der Nuklear-Explosion verweist auf die unmittelbare Wucht und Gewalt des christlichen Ur-Ereignisses, sie ist vergleichbares ABBILD des einen großen, mythischen UR-BLITZes am frühen Ostermorgen, der nicht nur die Wächter am Grab blendete und Maria Magdalena verwirrte, sondern der zu dem gewaltigen Initiations-Ereignis einer ganzen Epoche werden sollte, das seit fast zwei Jahrtausenden der Grund ist, unsere europäische Kultur mit dem Adjektiv "die christliche" zu versehen. Dieses Ereignis war (und ist) seitdem Gegenstand unzähliger theologischer Interpretationen und Debatten, widersprüchlicher oder sich widersprechender Auslegungen, harscher Entzweiungen, Abspaltungen und Kirchenschismen, bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen und der Auslöschung zahlloser Menschenleben. Die Messiaensche Gleichsetzung von Atomblitz und Auferstehung wirkt in diesem Zusammenhang bizarr. Sie erscheint mit Blick auf die Geschichte des Christentums (in dessen Mitte eben jene Waffen erfunden wurden, die zu den zerstörerischsten gehören, die Menschen jemals erfanden) unangemessen. Gleichwohl ist sie - und das hoffe ich heute Abend sichtbar werden zu lassen - außerordentlich schön, - verführerisch und überwältigend schön - gefährlich schön. –

 

Zwei Werkzyklen Messiaens werden heute Abend berührt: - das Livre du Saint Sacrement für Orgel solo und die Visions de L'Amen für zwei Klaviere. Zwischen der Komposition beider Zyklen liegen 40 Jahre. Das Orgelbuch ist das letzte vollendete Werk für Orgel von Messiaen und wurde am 1. Juli 1986 in Detroit durch Almut Rößler uraufgeführt.  Die Visions de L'Amen entstanden zu Anfang der 1940er Jahre in Paris. Ebenda führten Messiaen und seine spätere Frau Yvonne Loriod das Werk am 10. Mai 1943 zum ersten Mal auf.

 

Aus diesen beiden Werken hören Sie heute 6 Stücke:

 

L'apparation du Christ ressucité a Marie-Madeleine (Der auferstandene Christus erscheint Maria Magdalena, Livre du Saint Sacrement, Nr. 11)

Les ténèbres (Die Finsternis, Livre du Saint Sacrement, Nr. 9)

Amen du jugement (Das Amen des jüngsten Gerichts, Visions de L'Amen, Nr.6)

Amen de la creation (Das Amen der Schöpfung, Visions de L'Amen, Nr.1)

Amen des anges, des saints, du chant des oiseux (Das Amen der Engel, der Heiligen und des Gesangs der Vögel, Visions de L'Amen, Nr.5)

La manne et le pain de vie (Das Manna und das Brot des Lebens, Livre du Saint Sacrement, Nr. 6)

 

Diese Werke sind aus folgenden Gründen ausgewählt worden:

1. Sie haben in mir sofort einen 'optischen Impuls' ausgelöst.

2. Ihre 'Auren' sind extrem verschieden, d.h. sie ermöglichen unterschiedliche Visualisierungskonzepte und

3. Messiaen verklanglicht hier sehr differierende Lichtsituationen: in 'Marie-Madeleine' das individualisierte, personenbezogene Licht, in 'ténèbres' das alles verschlingende Anti-Licht, die absolute Finsternis, gleichsam die Depression vor der Auferstehung, in den 3 Stücken aus den Visions de L'Amen die mythischen Lichtverhältnisse am Anfang und am Ende der Welt, sowie einen ‚Licht’-Blick auf das den Himmel bevölkernde Personal: Engel, Heilige und Vögel, und im 'Manna' schließlich das gleißend weiße, harte, "aufklärerische" Licht der Wüstensonne.

 

Zu diesen sechs Werken von Messiaen habe ich mir erlaubt ein eigenes hinzuzufügen. Es trägt den Titel "1. Exzentrik", es ist das einzige nicht-instrumentale Werk des Abends und markiert in gewisser Hinsicht dessen dramaturgische Wendestelle. - Im folgenden skizziere ich das Programm in seiner gesamten Abfolge, verbunden mit dem Hinweis, dass es sich hierbei zunächst um MESSIAENs Gedankenwelt handelt, nicht um meine.

 

Dietrich Hahne / Thomas Neuhaus

Prolog

für Posaune, Tape und Live-Electronic

ohne Video

 

Das Material des Prologs ist fast ausschließlich dem daran anschließenden Orgelstück (Livre du Saint Sacrement, Nr. 11) entnommen. Die erste musikalische Phrase ist ein wörtliches Messiaen-Zitat, nämlich die sog. 'langage communicable', (die 'kommunizierbare Sprache') eine von Messiaen verwendete Technik mit der er WORTE Buchstabe für Buchstabe in Töne umwandeln konnte. Es ist äußerst bemerkenswert wie nah Messiaen die Begriffe 'Auferstehung' und 'Apokalypse' assoziiert, so nah, dass er die 'langage communicable' bemüht den Begriff 'APOKALYPSE' für alle hörbar in den Orgelsatz zu integrieren. Der Prolog bildet somit gleichsam eine Art Mini-Ouverture sowohl zu dem zu ihm gehörenden Orgelstück, als auch für den gesamten Abend.

 

Oliver Messiaen

L'apparation du Christ ressucité a Marie-Madeleine (Livre du Saint Sacrement, Nr. 11)

für Orgel und 12-kanaliges Video

 

Das Werk ist das längste Stück des Zyklus' und beschreibt in einer Art 'Mini-Oper' die Begegnung Maria-Magdalenas mit dem soeben auferstandenen Christus. Maria-Magdalena wandert durch den frühen, noch dunklen Oster-Morgen. Sie ist auf dem Weg zum Grab. Da begegnet ihr ein Fremder. Es ist Christus. Maria Magdalena erkennt ihn nicht. Erst als er sie anspricht, versteht sie, wen sie vor sich hat. Die Szene ist von unglaublicher Zartheit und Intimität, fast könnte man meinen ein Liebespaar zu sehen, das sich zu einem Stell-Dich-ein verabredet hat. Aber das täuscht. Der Auferstandene entschwindet. Maria-Magdalena bleibt allein zurück. Was bleibt, ist ihre Gewissheit Christus, den Auferstandenen gesehen zu haben. So wird sie, der Überlieferung nach, die erste Gläubige, die erste Christin. Messiaens Orgel kommentiert diese Begegnung. VOTRE DIEU - APOKALYPSE buchstabiert die Orgel in gewaltigen Oktaven und Unisoni, eben in jener 'langage communicable, der 'kommunizierbaren', d.h. in einer von allen zu verstehenden Sprache.

 

Dietrich Hahne / Thomas Neuhaus

Kontrafaktur 1

für Posaune und Live-Electronic

ohne Video

 

Dies Stück ist wiederum aus dem Material des nächsten Orgelwerks Les ténèbres abgeleitet. Eine einfache schlichte Phrase, die dem Messiaen'schen Original entnommen ist, bereitet auf die folgende Komposition vor.

 

Oliver Messiaen

Les ténèbres (Livre du Saint Sacrement, Nr. 9)

für Orgel und 12-kanaliges Video

 

Hier erklingt, was benannt ist: die Finsternis. Es ist allerdings eine besondere: wir hören die Dunkelheit unmittelbar vor der Auferstehung. Die Auferstehung selbst vertont Messiaen im 10. also unmittelbar anschließenden Stück des Orgel-Zyklus’. Heute Abend wird dieses Stück aber nicht zu hören sein wird.

 

Oliver Messiaen

Amen du jugement (Visions de L'Amen, Nr. 6)

Amen de la creation (Visions de L'Amen, Nr. 1)

für zwei Klaviere und 12-kanaliges Video

 

Diese beiden Stücke sind von sehr gegensätzlicher Natur. Der Begriff 'Amen' bedeutet so viel wie: "Ja!" oder "So ist es!". Es ist die rituelle Bekräftigung am Ende eines Gebets oder einer liturgischen Handlung. Bei Messiaen werden daraus klingende Statements zur christlich-katholischen Theologie: einmal zum 'Jüngsten Gericht', das andere Mal zur 'Schöpfung'; ein gewaltiger Zeit-Rahmen wird aufgespannt zwischen Anfang und Ende der Welt.

 

Dietrich Hahne

1. Exzentrik

für 12-kanaliges Video

 

Neben der Beschäftigung mit der Messiaen’schen Gedankenwelt, war die Lektüre eines Textes von Peter Sloterdijk inspirierend bei der Entstehung meines Multichannel-Videos. Im Text geht der Philosoph von der Annahme aus, dass - Zitat: „'Der Mensch' aus einer kleinen Minderheit asketischer (d.h. ‚exzentrischer’ – D.H.) Extremisten entsteht, die aus der Menge treten, um zu behaupten sie seien eigentlich alle.“ Zitat Ende. (P.Sl. ‚Du musst dein Leben ändern’, S. 349)

Exzentrisch sind also diejenigen, die sich von den in der Mitte Lebenden entfernen und Anderswo eine neue Existenz suchen – nahezu alle Religionen haben ihre Ursprünge in vergleichbaren “Absetzbewegungen”. Dabei üben die Exzentriker auf Andere - je nach programmatischer und inhaltlicher Attraktion - große Faszination aus. Indem sie den Zurückgebliebenen zeigen, dass Unzufriedenheit mit dem Leben im Hier und Jetzt kein unabwendbares Schicksal ist, beweisen sie die Wirkmächtigkeit radikaler Entscheidungen. Ist der Gedanke einmal präsent, dass nur aus eigenem Tun nachhaltige Veränderung erwächst, ist der Schritt zum Neuen schon halb getan. Wird dieser von Vielen vollzogen, werden aus Exzentrikern nach und nach Bewohner einer „Neuen Mitte“. Es entsteht eine Erste Exzentrik, d.h. eine Gesellschaft in der das Bessere, dem Alten Überlegene, zum Realitätsprinzip erhoben wird. In allen Winkeln dieses neuen Lebenskreises wirken exzentrische, d.h. besser-als-das-Alte-sein-wollende Regeln, die zu stabilen Verhältnissen führen, solange jene als wahr und richtig anerkannt bleiben. -

 

Mein Video ist ein kurzer Versuch über die Unmöglichkeit stabiler Verhältnisse. Der Widerspruch zwischen hohem Ethos, utopischem Geist und politischer Realität ist unauflöslich. Meiner Arbeit liegen ausschließlich dokumentarische Aufnahmen zugrunde. Diese entstanden u.a. an sog. 'historischen' Wendestellen: z.B. im August 1961 in Berlin oder im Oktober 1989 in Leipzig.

 

Oliver Messiaen

Amen des anges, des saints, du chant des oiseaux (Visions de L'Amen, Nr.5)

für zwei Klaviere und 12-kanaliges Video

 

So wie in den beiden zuvor erklungenen Amen-Stücken ein Blick auf das Ende und den Anfang der Zeit geworfen wird, schauen wir jetzt gleichsam nach oben und erblicken - "erhören" - die Engel samt allen Heiligen. Der katholische Himmel, das Messiaen'sche Firmament sozusagen, wird allerdings auch von irdischem Getier bevölkert, nämlich von einer Vielzahl tirilierender Vögel.

 

Dietrich Hahne / Thomas Neuhaus

Kontrafaktur 2

für Posaune, Percussion, Tape und Live-Electronic

ohne Video

 

Auch hier erklingt vorwegnehmend motivisches Material aus dem folgenden Orgelsatz - erstmals und nur hier vorkommend - in Kombination mit dem Klang großer Trommeln.

 

Olivier Messiaen / Thomas Neuhaus

La manne et le pain de vie (Livre du Saint Sacrement, Nr. 6)

für Orgel, kommentierende Live-Electronic und 12-kanaliges Video

 

Das Stück ist ein in mehrfacher Hinsicht faszinierendes Werk: zum einen wird hier - dem theologisch-musikalischen Programm entsprechend - das Brot-Wunder in der Wüste verklanglicht. (Zur Erinnerung: Jede Nacht fiel Manna ("Himmels-Brot") vom Firmament, genau im rechten Moment, denn das Volk Israel drohte bei seiner 40-jährigen Wanderung durch die Wüste zu verhungern. So war das Überleben der Heimatlosen über Jahre hinaus gesichert. Manna ist seitdem das "Brot des Lebens" und wird mit dem christlichen Abendmahl assoziiert.) Zum anderen läßt Messiaen hier klangliche Atmosphären entstehen, die einen wunderbar seltsamen Zauber ausüben. Zur Zeit der Arbeit am Orgelzyklus war er in Israel und erlebte einige sehr intensive Momente in der judäischen Wüste. Seine musikalische Phantasie verwob die dort empfangenen Eindrücke mit der biblischen Erzählung. Hörbar u.a. daran, dass eine judäische Wüsten-Sandlerche mit ihrem monotonen Gesang wieder und wieder den musikalischen Fluß unterbricht und so dem gesamten Stück ihre Form, ihren akustischen Stempel aufdrückt.

 

Darüberhinaus wird dieser Satz nicht nur mit Videos, sondern auch mit einer akustischen Kommentarschicht versehen. Die im Prolog und den Kontrafakturen verwendete Live-Elektronik bleibt hier gleichsam hängen und erklingt auch im Messiaen'schen Orgelstück. Auf diese Weise findet eine Verschmelzung statt: wir ziehen Messiaens 25 Jahre alte Komposition auch akustisch in die elektronische, intermediale Gegenwart hinüber.

 

Dietrich Hahne / Thomas Neuhaus

Epilog

für Posaune, Tape und Live-Electronic

ohne Video

 

Der nur eine Minute dauernde Epilog schließlich lässt Messiaen als leidenschaftlichen Forscher zu Wort kommen. Als anerkannter Ornithologe war er nicht nur ein profunder Kenner der Vogelstimmen, sondern vor allem deren gewissenhafter Archivar. Kaum eine Vogelstimme, der Messiaen nicht nachgelauscht und die er nicht notiert hätte. Das im Epilog verwendete Sprachsample lautet übersetzt, Zitat Messiaen:  "Den Vogel, den Sie dort hören, ist die China-Singdrossel, eine der besten Sängerinnen, vielleicht die schönste Sängerin in Frankreich überhaupt. Was Sie hören, sind sich wiederholende Stanzen, die 2, 3 oder 4 mal wiederholt werden, meist 3 mal, wie eine Zauberformel. Bemerkenswert ist die herrische, autoritäre, durchdringende Qualität dieser Stimme. - Haben Sie diese einmal gehört, werden Sie sie niemals mehr vergessen." Zitat Ende.

 

Der Vogelgesang wird zum Symbol der lebendigen, selbstgenügsamen, d.h. sich selbst erschaffenden Schöpfung: Schön aber mit Nachdruck, herrisch aber ohne Gewalt, durchdringend aber flüchtig wird er zum klingenden Protest gegen die vom Menschen entfesselten Zerstörungskräfte atomaren Lichts. -

 

Zum Schluß möchte ich der Philharmonie Essen und namentlich Herrn Dr. Bultmann meinen Dank dafür aussprechen, dass er dieses ungewöhnliche Projekt ermöglicht hat. Für mich ist damit ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen, nämlich diesen Raum nicht nur mit Klang, sondern auch mit Licht und Bildern anzufüllen, zu animieren, zu verwandeln. Herzlichen Dank also dafür, dass dies nun möglich wurde! -

 

Und noch eine Bitte: das heutige Programm ist als durchgehende, ca. 70 Minuten dauernde 'GroßKomposition' konzipiert worden. Wir bitten Sie daher zwischen den einzelnen Sätzen nicht zu klatschen - gerne können Sie dies am Ende dann ausgiebig nachholen. -

Ihnen allen wünsche ich einen spannenden Abend mit offenen Ohren u n d Augen. - Vielen Dank. -