METANOIA

für Klarinette, Harfe und Video auf drei Flächen, 14:03 - 2011/12

Kompositionsauftrag des DUO IMAGINAIRE (John Corbett, Klarinette - Simone Seiler, Harfe)

 

 

SCHWARZ-WEISS | TÜRKIS. Übereinander gelagerte Schichten. Abstrakte Gegenständlichkeit.

 

"Komm gehen wir. Wir sind soweit. Warum kommst Du nicht? Alle warten nur auf Dich."

"Wo habt ihr mit einem Mal die vielen Blumen her?"

"Von da drüben."

 

So lautet in etwa die Übersetzung eines kurzen (in italienischer Sprache geführten) Gesprächs zwischen drei Männern; gegen Ende meines Stücks 'Metanoia' wird dieses verständlich, d.h. hör- und sichtbar gemacht. Die wenigen Sätze sind Teil einer ausgedehnten Traumsequenz, die Pier Paolo Pasolini innerhalb seines Erstlingsfilm "Accattone" inszeniert. Der Traum wird vom gleichnamigen Protagonisten des Films geträumt. In ihm erfährt er etwas über seine nähere Zukunft, allerdings ohne zu verstehen, was ihm widerfahren wird. Die Welt um ihn herum sieht aus wie immer. Auch seine Freunde sind da. Nur die verhalten sich seltsam anders als sonst. Die Männer haben schwarze Anzüge an und tragen Blumen im Arm. Es scheint als seien sie auf dem Weg zu einer Beerdigung. Und tatsächlich - einige Einstellungen später - wird diese auch gezeigt. Die Männer in den schwarzen Anzügen begegnen dem herumirrenden Accattone. Einer sagt zu ihm: "Komm gehen wir. Wir sind soweit. Warum kommst Du nicht? Alle warten nur auf Dich". Accattone dreht sich um, entdeckt die Männer und auch die Blumen, die sie im Arm halten. "Wo habt ihr mit einem Mal die vielen Blumen her?", fragt er. Ein Anderer antwortet: "Von da drüben." - Abblende.

 

Aufblende.  GRÜNBLAU. PINK und ROT. Fließende Übergänge. Anders-als-zuvor.

 

Was Accattone - im Traum wird er "Vito" genannt - bis zum Ende der Sequenz nicht versteht ist, dass seine Freunde ihn auffordern Accattones Beerdigung zu besuchen. Verstört eilt er den Schwarzgekleideten nach. Seltsamerweise wird Accattone/"Vito" später als Einzigem der Zutritt zum Friedhof verwehrt. - Wenige FilmSzenen nach der TraumSequenz, also nach dem Erwachen, stirbt Accattone überraschend durch einen Motorrad-Unfall.

 

Der plötzliche Tod, der so plötzlich eintritt, dass der Sterbende nicht merkt, dass er stirbt, ist die andere, eigentlich nicht gewollte Form der Metanoia. Normalerweise bezeichnet der aus der Theologie stammende Begriff den Übergang von einem geistigen in ein geistliches, also im christlichen Sinne neues Leben - womit ausdrücklich noch nicht das 'ewige' Leben gemeint ist. Der Übergang kann zwar unerwartet eintreten, und er kann einen unvorbereitet treffen, aber das außerordentliche Ereignis selbst wird zu der Wendestelle im Leben, deren Außerordentlichkeit immer und immer wieder reflektiert wird. Die Wandlung des Saulus (dem Christenverfolger) zum Paulus (dem Christusverkünder) ist das prominenteste Beispiel einer solchen Metanoia (- mit weitreichenden Folgen für die dogmatische Ausformulierung des Christentums). In Pasolinis Traum hat der vorausgenommene, unverstandene Tod eine andere Bedeutung. Längst hat die 'Wandlung' stattgefunden. Allerdings ohne dass Gelegenheit bestanden hätte darüber zu reflektieren. Ohne dass Abschied hätte genommen werden können vom alten 'irdischen' Leben samt den darin geliebten Menschen (- im Gegenteil: in Form einer grausam-surrealen Mimikri scheint alles wie immer zu sein). Selbst ohne die Erkenntnis, dass etwas Neues eingetreten ist, ist man plötzlich mit diesem zu leben gezwungen.

 

"Wo habt ihr mit einem Mal die vielen Blumen her?" - "Von da drüben." - Abblende - Aufblende: in meinem Fall ist mit "Da drüben" die Insel Hiddensee gemeint. Ende August 2011 bin ich zusammen mit meiner Familie dort gewesen und habe "die vielen Blumen" gefilmt.  GRÜNBLAU. PINK und ROT. Gras weht im Wind. Aus diesen Aufnahmen ist der Schluß von 'Metanoia' entstanden. - Der Theologe Gerhard A. Hahne, mein Vater, starb zwei Wochen zuvor - wenige Stunden nach einem Schlaganfall. Das Stück ist ihm gewidmet. -

 

Dietrich Hahne, August 2012