GEISTER (detached cosmopolitan spectators)

3+2ch-Audio/VideoInstallation, Looplänge der Deckenprojektion: 11:00 - 2010

 

Die Installation ist zweiteilig: eine dreiteilige Deckenprojektion wird ergänzt durch auf zwei Monitoren wiedergegebene Texte; letztere stammen von: Konstantin Ciolkovskij, Valerian Mouravjev und Leo Trotzki. Deren mit der Sowjetmacht (1917-1991) eng verbundenen Biographien werden ebenfalls dargestellt. Inhaltlich geht es um Radikalutopismen in denen von Dingen die Rede ist, die man eher im Bereich religiöser Vorstellungen zu finden glaubt: Auferstehung, Transformation, Verwandlung. Dennoch waren sie Teil der (frühen) sowjet-biokosmistischen Ideenwelt:

 

„Die Unendlichkeit der vergangenen Zeit zwingt zu der Annahme, dass mehrere Welten existieren. Diese Welten haben, als sie komplexer wurden, einen Teil ihrer Materie und einen Teil ihrer Lebewesen in ursprünglicher Form kombiniert. Sie sind auf ihre Art vollkommen und können infolge ihrer geringen Dichte als GEISTER bezeichnet werden. Wir sind von Myriaden von Geistern verschiedener Epochen umgeben und können uns auch in sie verwandeln, wobei ein Auftreten in Gestalt dichter moderner Materie unendlich wahrscheinlicher ist. Und dennoch gibt es für uns keine Garantien gegen eine Umwandlung in bedingte Geister." (Konstantin Ciolkovskij (1857-1935); K.C. gilt als "Vater der sowjetischen Raumfahrt". Drei Jahre vor seinem Tod wurde er mit dem Orden des Roten Arbeitsbanners ausgezeichnet. daraufhin vermachte er in einem Brief an Stalin alle seine "Arbeiten über das Flugwesen, das Fliegen mit Raketen und den interplanetaren Verkehr" der KPdSU und der Sowjetmacht.)

 

„Die Auferweckung eines Wesens ist nur dann möglich, wenn jedes Individuum eine bestimmte Kombination von Elementen der Welt darstellt, wobei sich die Art der Kombination in einer bestimmten Formel ausdrücken lässt. Die Lehre der alten  Pythagoreer besagt, dass das Wesen der Dinge in Zahlen bestehe und die Dinge Zahlen seien. Da in den Wissenschaften physikalisch-mathemathische Methoden dominant sind, nähern sich die Wissenschaften diesem Standpunkt an. - Jeder räumlich-zeitliche Prozess ist das Produkt einer bestimmten Menge, d.h. von Elementen, die durch bestimmte Gesetze miteinander verbunden sind. Die Veränderung und demzufolge auch die Zeit eines jeden Elementes der Welt drückt sich durch die Gesamtheit der Beziehungen der anderen Elemente zu diesem Element aus. Würden zwei Elemente ein und dieselbe Kombination aufweisen, so wären sie identisch. Die Formel, die den jeweiligen Gegenstand und dessen Bezug zu den anderen Gegenständen ausdrückt, ist das Wesentliche eines jeden Gegenstandes im betreffenden Moment. - Somit bedeutet die Auferweckung des Gegenstandes die Wiederholung einer früheren ähnlichen Kombination von Elementen, die den Gegenstand konstituieren oder ihn beeinflussen. Die Eigenschaft der Unumkehrbarkeit der Zeit ist ein Resultat der Einmaligkeit einer jeden solchen Kombination. Um die Zeit zu besiegen, müssen alle vorangegangenen Kombinationen durchlaufen werden oder in Form einer Katastrophe, ruckartig, auf die Mehrheit einwirken, um ihre Elemente über die vermittelnden Kombinationen in die gesuchte Kombination zurückzuversetzen.“ (Valerian Mouravjev (1885-1931/32 oder 1939) war Anfang 1920 Leiter der Abt. für Information und Wirtschaftsrecht beim Volkskommissariat. Aufgrund seiner vor 1918 kritischen Haltung der Revolution gegenüber, wurde er bereits im Feb. 1920 verhaftet und zum Tode verurteilt. Dank Leo Trotzkis Intervention wurde das Urteil in eine 4-jährige Haftstrafe umgewandelt, die unmittelbar danach durch eine Amnestie erlassen wurde. Nach Trotzkis Ausweisung 1929 verhaftete man ihn erneut. Verurteilt zu 3 Jahren Arbeitslager starb er ungesichterten Angaben zufolge 1930/31 auf den berüchtigten Solovki-Inseln im Weißen Meer; andere Quellen sprechen von einer Verbannung nach Narym in Sibirien, wo er 1932 am Flecktyphus starb.)

 

„In jener Hülle, die den Prozess des kulturellen Aufbaus und der Selbsterziehung des kommunistischen Menschen umgeben wird, werden sich alle vitalen Elemente der heutigen Künste zu einem extremen Massiv verflechten. Der Mensch wird ungleich stärker, klüger und sensibler sein; sein Körper harmonischer, seine Bewegungen rhythmischer, seine Stimme musikalischer. Die Formen des Alltagslebens werden zu dynamischer Theatralik finden. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich zum Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx emporschwingen. Und über dieser Gebirgskette werden sich neue Gipfel erheben.“ (Leo Trotzki - eigentlich Lev Bronstein (1879-1940) ist eine der wichtigsten Personen der Russischen Revolution. 1918 wurde er Oberbefehlshaber der von ihm mitbegründeten Roten Armee. Nach Lenins Tod 1924 wurde er von Stalin schrittweise entmachtet und 1929 schließlich des Landes verwiesen. Am 20. August 1940 ermordete ihn in Mexiko City ein Agent Stalins.)

 

Zum Titel: “Richard Rorty hat seine Kollegen in den philosophischen Departments und Humanwissenschaften einmal etwas bitter als „detached cosmopolitan spectators“ bezeichnet. Er meinte damit: Sie reden von der Krise wie von einer Operninszenierung. Allenfalls blicken sie mit dem Opernglas auf die Katastrophen an der Peripherie, ohne zu begreifen, dass viele Desaster, die sich heute ereignen, nicht nur ihren eigenen Unheilsgehalt haben, sondern auch Zeichenqualität für unsere Zukunft besitzen." (Peter Sloterdijk, FAZ.NET Interview vom 23.03.2009, vergl. auch P.Sl. 'Du mußt Dein Leben ändern!', S.674) Diese etwas bitter-sarkastische Formulierung RICHARD RORTYs passt nicht nur exakt auf Konstantin Ciolkovskijs bizarre Ideenwelt s.o., sondern eben auch auf das gleichsam über dem Boden schwebende = bodenlose, sowjetische, 74 Jahre andauernden Großexperiment, in dem dem „Zukünftigen / Neuen“ (= noch nicht Eingetretenen) totalitärer Vorrang vor allem anderen gewährt wurde, incl einem „Neuen Menschen“, dem im Falle seiner Nichtanpassung/Widerständigkeit gegen das „Neue“ nur die Auslöschung, resp. Selbstauslöschung blieb.

 

Der Film „Der Fall von Berlin“ (UdSSR, 1950) des russisch-georgischen Regisseurs Micheil Tschiaureli gilt als Meilenstein des sowjetischen, real-sozialistischen Films. De facto ist er einzig zur Verherrlichung des allmächtigen Diktators Josef Stalin (eigentlich Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, wie Tschiaureli georgischer Herkunft) hergestellt worden. Einige Einstellungen aus dem Film habe ich ausgewählt, digital bearbeitet und für die Installation neu montiert.

 

Die UA von GEISTER (detached cosmopolitan spectators) fand im Rahmen der ISEA 2010 (International Symposium on Electronic Art) im August 2010 in Essen statt.