Partitur

Mein Werk SCHIND | BLEICHE entstand in einer Zeit in der ziemlich viele Dinge ins Wanken gerieten. Was da gewankt hat und z.T. auch einstürzte, spielt hier keine Rolle. Das Stück ist mit einigen Unterbrechungen in einem Zeitraum von 29 Monaten entstanden. Seine Spieldauer beträgt gut 52 Minuten, resp. knapp 31 Minuten.

 

Im folgenden Text habe ich versucht von dem etwas umzusetzen, was das Stück künstlerisch charakterisiert. Dabei bilden sowohl die Form des Textes als auch dessen inhaltliches „Überquellen“ genau definierte, sich am Vorbild der intermedialen Komposition orientierende Analogien.

Das Stück existiert in 2 Fassungen:

 

(I) die vollständige Fassung für Video auf 13 Flächen und 11 Instrumentalisten (col, SW, 52:18, 2018-2021) und

(Il) als reines Musikstück: 12 Variationen in 47 Sätzen für 11 Instrumentalisten (30:42, 2018-2020).

 

In beiden Fassungen ist die gleiche Instrumentalmusik (!) zu hören, allerdings ist der musikalische Zusammenhang im rein instrumentalen Satz ein völlig anderer, da die Variationen nicht nur unmittelbar aufeinander folgen, sondern auch ohne jeden weiteren audiovisuellen Zusatz zu hören sind. Beide Fassungen sind als SIMULATIONEN (Dorico / Note Performer) wiedergegeben. Die in Var.III.1-4, Var.IV. 1-3 und Var.XII.2a-e notierten GERÄUSCHKLÄNGE des Ensembles (s. Partitur) sind nicht simuliert! Die stattdessen klingenden Tonhöhen sind Geräusch-Substitute!

 

 

Schind | Bleiche ist ein Kunstwort.

Konnotation I: „schinden“ - „bleichen“. Wer/was schindet und bleicht wen? Was bedeutet „schinden“, „bleichen“? Woher stammen und in welchem semantischen Zusammenhang werden diese Verben benutzt? Gibt es Täter, die schinden und/oder Opfer, die geschundenen werden - und bleichen? Wer ist Opfer, wer Täter? Gibt’s Doppelfunktionen? Sind trennscharfe Unterscheidungen zwischen beiden un/ möglich? Wer fragt das? Wo befinden sich Frager und Befragte? - In der „Welt“, in der „Hölle“, im „Himmel“ - auf dem „Schindanger“? Oder ist Schind | Bleiche Ausdruck einer allgemeinen „Conditio Humana“, - also eine etwas manieriert- inspirierte Neubenennung allgemein-menschlicher (und allgemein bekannter) Hilflosigkeiten angesichts überkomplexer Verhältnisse in allem „was der Fall ist“? Was auch immer überkomplex bedeuten mag: „geschlossene Gesellschaften“ (Jean- Sol Partre) sind sie alle! Mediale Verhältnis-Projektionen von Boris Vian’scher Beseeltheit. Von „heiligen Schriften“ aus „heiligen Ländern“ bis hin zu allerneuesten, überwältigend-surrealen Bilderfluten algorithmischer Provenienz, - in allem das stets gleiche Fluidum erhaben-menschlicher Vernichtungswut! Immer sind es „die

Anderen“, die verantwortlich sind. Am Ende (aber) sind wir es selbst, die in manisch-destruktiver Autopoiesis schuldig werden - weil wir schinden und bleichen.

 

Konnotation II: Blind | Schleiche - eine Schlange (Serpentes), die keine ist - bloß Eidechse (Anguis fragilis), die für gefährlicher gehalten wird als sie sein darf. Außerdem ist sie Objekt verschiedener Gedichte, u.a. von Ringelnatz, Morgenstern und weiteren. Die fungieren hier aber als bloße Scheineinsätze, poetische Tiermetaphern als falsch gelegte Spuren sozusagen. Das Motiv der Schlange - einmal benannt - bleibt aber, verschwindet nicht! Keine Ringelnatz’sche Blindschleiche, dafür jedoch - später - der Auftritt einer froschfressenden Ringelnatter (Natrix natrix). Wirkliche Schlange (statt harmloser Eidechse) trifft auf süßes Fröschlein (Pelophylax „esculentus“). Gelurche. Gefährliches Geschlängel und liebestolles Gequake. Mythische Verführerin und ahnungsloses Opfer. Verschlungen-verschlingend „Liebende“. Mythentiere mit einschlägigen Vorgeschichten. (Oder vorzeitiges Ende einer Grimm’schen Märchenfigur.) -

 

Konnotation I’: Sind die „Anderen“ die „Hölle“ - wie Sartre insinuiert? Oder ist Hölle überall dort, wo kein Licht hinfällt. Schon möglich, könnte man antworten. Nur - welches Licht? Das der „Aufklärung“? Vielleicht. Nur - Licht welcher „Aufklärung“? Das hellgleißende Licht jener „Aufklärung“, die uns seit 250 Jahren vorgaukelt, wir seien zu höherem fähig - sapere aude? Oder ist es das Licht der „Abklärung der Aufklärung“ - wie Sloterdijk sagt? Also jener kaleidoskopischen Lichtbrechung, die sich nicht mehr nur im immer gleichen, hellweißen Licht das Hirn verbrennen, sondern den einzelnen Farbwirkungen das Wort reden will? - Oder dämmert es gar schon wieder? Kommen wir nicht heraus aus dem ewigen Zwielicht des Mythischen? -

 

Was ist „Vernunft“ angesichts der drei immer wahrsprechenden Macbeth’schen Hexen - drei Kameradinnen diese, die gleichsam als eine Person auftreten -, deren distanziert-überlegene und immerwährende Betrachtung dessen, was Menschen sich gegenseitig antun, zum unanständigen Lachen reizt - weil sie die Menschen mit stoischem Gleichmut in ihr immer gleiches Verderben rennen lassen. Also: welche Vernunft? -

 

Glücklich diejenigen, die sich in Sicherheit bringen vor menschlicher Anmaßung und schicksalsergebenem Gerenne! Nur: welche Sicherheit? Ich fürchte, es gibt keine. Jede Bewegung führt am Ende ins Verderben, so oder so. Auch die der Aufklärung! „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Wie kommen zwei Meisterdenker wie Adorno und Horkheimer dazu in diesem Ton über die Aufklärung zu sprechen? Dass die beiden wissen, wovon sie sprechen, dürfen wir annehmen. Dazu waren ihre Biographien viel zu sehr verknüpft mit jenem eliminatorischen Wahn, der die Welt verpestete. (Und nach wie vor aus ungezählten Mäulern stinkt!). Also noch einmal: welche Sicherheit gibt es „im Zeichen aufgeklärt- triumphalen Unheils“? -

 

Grenouilles böses Genie, das sich einen Dreck schert um Licht und Aufklärung, überwindet mit diabolischer Sicherheit jedwedes Bedenken. Da gibt’s kein Halten, keine Sicherheit mehr! Denn welcher „Verstand“ widerstünde olfaktorischer (= biochemisch-unaufgeklärter) Manipulation von der er nichts weiß, weil er diese nicht als ein von außen fremd Eingreifendes, sondern als zutiefst EIGENES, d.h. als eine höchst eigene tiefe Regung, empfindet? Welcher aufgeklärte Geist wäre stark genug (und wiese zurück), was olfaktorische Auren ihm an unfasslicher, vernunftbesiegender Macht zuzuweisen im Stande wären? Dies seien die „Düfte der Frauen“ wird bisweilen geraunt. In kleine Phiolen gefüllt, sind sie wertvoller als Menschenleben. Und weil das so ist, ist intelligentes Morden um sich ihrer zu bemächtigen legitim. - Die ermittelnde Beamtin Nadja Simon (Friedericke Becht) jedenfalls versagt spektakulär. Kadelbachs filmische Kontrafaktur und variative Fortspinnung des Süsskind’schen Romans bemüht sich in sechs langen Teilen darum, Plausibilität dort zu vermitteln, wo Irrationalität alles, aber auch alles menschliche Tun durchdringt.

 

Ironie der Geschichte: Der Frosch - frz.: Grenouille! - wird gefressen. Nicht, weil er etwas besonderes an sich hätte. Oder weil ihn ein besonderes Können auszeichnete vor anderen. Nein. Er wird gefressen, weil er dämliches Beutetier ist, gut schmeckt und sich leicht fangen läßt. Alle möglichen Lebewesen fressen Frösche, weil diese dem Gefressen-werden wenig entgegen zu setzen haben. Vögel, Kriechtiere, Menschen, sie alle lieben Frösche auf ihren Tellern. Hier aber ist es eine Schlange, die ihn verschlingt und - als mythische Verführerin seit paradiesischen Tagen sämtliche femmes fatales repräsentierend - dem naiven Quäker den Garaus macht. Was für eine erhaben-banale Wendung des literarischen Mythos’! „Eva“, die Schlange, trägt den Sieg davon! Nicht länger Opfer ist sie, sondern Täterin. Und dabei glaubte der Frosch in seinem Wahn bis zum Schluß unantastbar zu sein. Wie falsch er damit lag! Wie herzergreifend das ist. Und wie offensichtlich, dass Liebe blind macht. Zumindest die einen. Die anderen aber macht sie satt. Immerhin! -

 

Grenouille - die literarische Figur - destilliert, mazeriert und betreibt umfangreiche Grundlagenforschung, um das Objekt seiner Begierde, das obsessiv Begehrte, das mit allem Genie und virtuosem Können Herbeigesehnte endlich selbst erleben zu dürfen. Das „endlich-geliebt-werden“ ist sein zutiefst verständliches, allererstes und wichtigstes Wollen! Auch wenn dafür Zwang oder schlimmeres nötig ist. Lieben- wollen-dürfen: das gilt für Frösche wie für Männer! Meist mit lächerlichem Ausgang. Eine gattungsübergreifende „amour fou“ möchte man meinen - oder eine zum Scheitern verurteilte amour amphibie. Im Süsskind’schen Roman wird der geniale Mörder Grenouille von einer Menge Obdachloser gefressen, die ihn nur deswegen fressen, weil er gefressen werden will! Mit seinem selbstgemachten, olfaktorischen passe partout kein Problem. - Für meinen Geschmack ist das viel zu aufgeklärt- pathetisch: das Selbstopfer als ultimativ-emanzipatorische Individuation. Nein, nein! Ich plädiere für einen entschieden naiveren Umgang mit Fröschen. Am Leben bleiben diese ohnehin nur zufällig. Nur solange keine/r des Weges kommt und sie für lecker hält, dürfen sie davonhüpfen. Kommen aber Hungrige in die Nähe, Jäger und solche, die ausschließlich an ihrer Schenkel Schmackhaftigkeit interessiert sind, wird’s heikel. „Eva“ etwa, die innig Geliebte, frißt ihn nur, weil sie Hunger hat. Mit Liebe hat sie nichts am Hut. Und er, der Gelurchte, läßt’s geschehen. Hüpft nicht weg, sondern verschwindet kopfüber in ihrem begehrenden Leib. Wunderbar! Was für ein grandioser Abgang! Und was für eine Erhabenheit spendende Metapher! Gefressen-werden als Ausdruck einer unglücklichen, weil unmöglichen Liebe UND als Proteinlieferant für den hungrigen Magen! Der Geliebten alles geben, was möglich ist - den Leib, das Leben, seine Liebe! DAS ist Glück und Selbstlosigkeit in höchster dialektischer Vollendung: wir müssen uns Frosch Grenouille als glückliche Lurche vorstellen! (Hehe.) -

 

Da kommt sardonisches Gelächter auf! Wie lächerlich sind wir, die wir der „Aufklärung“ noch immer Kredit geben! Warum „Vernunft“, wenn Leben sich in EINEM Moment ereignen kann, der alles andere in den Schatten stellt. Eine einzige Explosion des Lichts - und koste sie das Leben - wiegt Jahre dumpfen Verharrens im Mittelmaß auf! Welches mythisch-mystische Licht der Erkenntnis, welches GLÜCK für den, der alles wagt. ALLES! Egal, was „die Anderen“ meinen, denken, tun! Egal in welcher Hölle wir enden. Die, die wir uns fallen lassen ins Licht-Nichts = Licht- Alles haben in einer Sekunde mehr begriffen als alle „Anderen“ in Jahren! Die Hölle, das sind nicht „die Anderen“, die Hölle, das ist „das Unaufhörliche“ (- an das Benn nicht dachte als er sein Gedicht schrieb). Die Hölle, das ist das zum unerträglichen, weil unaufhörlichen Mitlaufen-im-Mittelmaß Verdammt-sein. Wer nichts weiß von den Ekstasen eines vom „mainstream“ abweichenden, selbsterhöhenden Tuns, der weiß nichts von Glück, Allmacht und Himmel. Kadelbach und Süsskind sei Dank: Immanuels „kategorischer Imperativ“ gilt nur für die Schwachen, die „main-streamer“. Die Erbärmlichen, die sich das Leben nehmen, bevor es begonnen hat, glauben nur dem Erbärmlichen. Und tun das nur Erbärmliche. Gott, wie erbärmlich das ist und - wie verachtenswert!

 

Ironie der Geschichte (noch eine): auch Verachtung ist eine rekursive Angelegenheit. Die Verachtung der Verachtenden, die Säuberung der Säubernden, die Vernichtung der Vernichtenden ist keineswegs ein (nur) stalinistisches Prinzip (wie Groys es bitter treffend beschreibt). Niemand entkommt am Ende dem sardonischen Gelächter, das er selbst zuvor angestimmt hat. Die Hölle erreicht jeden und jedes. Auch (und vor allem) die Verächter der „Anderen“, die illuminierten Selbsterhöher. Am Ende stürzen sie alle. Auch (und vor allem) die Licht-Ekstatiker enden in der Grube. Da, wo’s am dunkelsten ist, krachen sie runter. Es gibt keine Ausnahmen. -

 

In einem immersiven Kunstwerk geraten viele Meinungen aneinander. Nicht immer ergänzen sie sich zu einem gemeinsamen Ton, einer gemeinsamen Farbe. Von einer Symphonie - in der so etwas wie Harmonie stattfindet - sind sie weit entfernt. Was nicht überrascht. Denn damit widerspiegeln sie nur das, was „Welt“ oder „Gesellschaft“ genannt wird. Welt und Gesellschaft sind Wimmelbilder (und Wimmelklänge) überbordenden Ausmaßes. Aus milliarden BildKlangfragmenten sind sie zusammengesetzt. Nur ab und zu ein Wiedererkennen von etwas Bekanntem, ein blitzartiges Auftauchen und Verschwinden. Das Ganze ein myriadisches Splitterkabinett, in dem Blicke und Klänge nie gespiegelt werden, - wie’s die Kabinettsinsassen glauben -, sondern gebrochen, gelenkt, verzerrt, verfärbt oder GAR NICHT zurückkehren zu ihren Bewohnern. In dieser „Neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas), die alles ist nur nicht neu, ist alles volatil.

 Wo also bleiben das Licht, die Gerüche, die alles beseelende „Macht der Liebe“? Antwort: im projektiven Nirgendwo ästhetischer Luftschlösser. Im „Schaum der Tage“, von der auch existentielle Philosophen, Zeitfließer, Treiben- und Driftende zu träumen wagen! Im volatilen Glück immersiver Gesamtkunstwerke. Oder - in freiem Tun selbst bestimmter Grenzen alles wagen zu dürfen. -

CUT. -

 

 Ununterbrochen entstehen und vergehen Bilder und Klänge. Und mit ihnen die Blickenden und Hörenden. In diesem Gewimmel ist Orientierung unmöglich. Das einzusehen und anzuerkennen nahezu ausgeschlossen. Wir sind an Ordnung gewohnt. An festen Halt und eindeutige Haltungen. Ihre (ans Lächerliche grenzende) Relativität muss geleugnet werden, damit sie Bestand haben. Was nicht stabil ist, ist nichts. Fluktuation und Volatilität sind Vorstufen zur Hölle. Dem auszuweichen, sie zu negieren, ihnen wütend die Faust entgegenzuballen, allererste Bürgerpflicht! Gewimmel OHNE Ordnung darf es nicht geben. Sonst sind wir überfordert! Hilflos Treibende auf einem unübersehbar großen und leeren und öden Schlammpfuhl, Jauchesee, Säurebecken. Jedenfalls nicht auf einem Meer, dessen klares Wasser und frische Winde Anlass zur Hoffnung böten, - vom bestirnten Himmel über und dem moralischen Gesetz in uns ganz zu schweigen. -

 

 Und?, werden Sie fragen. Ist das alles wahr? Ist es so schlimm? Oder etwa wichtig? - Aus Sicht der Eigentümer gut gefüllter Sozialkassen, der Inhaber offener Beziehungen und Veranstalter voluminöser Kunstfestspiele für übersaturierte Kultur- Bürger*innen ganz gewiß nicht. Aus Sicht dieser Minderheit ist das immersiv- ästhetogene Gewimmel ein Fall überpointierter, künstlerischer Realitätsverweigerung, das Ganze bestenfalls temporäres Entertainment - hier rein, da raus - oder schlimmstenfalls etwas für die klinische Psychiatrie. Für alle anderen aber ist es vielleicht doch mehr - mehr als ein Ausdruck aktueller Befindlichkeit jedenfalls. Und sich ihm - dem Gewimmel - auszusetzen, eine Erfahrung, die unablässig Erinnerungen wach ruft. An vieles, was war und ist. An ein Klang- und BildArchiv, dessen wir uns gar nicht bewußt sind. An einen Moment von Beseeltheit, der - „ach verweile doch“ - viel zu schnell verschwand. Oder an etwas, das

schmerzhaft verdrängt wurde.

 

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Was in diesem Text versucht wird, ist das, was im Stück ausformuliert ist - die Evokation von dem, was in der bildenden Kunst WIMMELBILD genannt wird. Vieles von dem, was damit in Verbindung steht, findet sich auch - downsized - in diesem Text wieder! Auf diese Weise ist nicht nur der INHALT des Textes informativ, sondern auch die Form und das WIE seiner Darstellung. Einem Wimmelbild analog sind z.B. die zahlreichen Anspielungen, die seinen Charakter in nicht unerheblichem Maß definieren. Nicht nur prominente Namen („Jean-Sol Partre“), sondern auch versteckte Zitate gibt es. Dieses „Anreißen“, „Meinen“, „Verstecken“, „Öffnen“, „Sagen“, „Verschweigen“ ohne sich ausführlich in dem Angerissenen, Gemeinten, Versteckten etc zu verlieren (oder sich zu ihm zu bekennen), ist kompositorisches Prinzip auch im Stück, das u.a auch deswegen so heißt wie es heißt. Es ist gleichsam so, als würde man nur einen Akkord anschlagen, statt eine ganzen Sonate zu spielen, oder nur einen vereinzelten Duft wahrnehmen, statt einen Gang durch blühende Frühlingswiesen zu unternehmen. In der Summe der vereinzelten Töne und Düfte, so hofft man, ist alles da! Und die überwältigende Menge sinnlich wahrnehmbarer Details, die über einem in Schind | Bleiche hereinbricht, legt das auch nahe. Aber das, was über einem überwältigend hereinbricht, ist eben doch nicht ganz oder vollständig oder - intakt. Und so tritt der inhärente Widerspruch schließlich ans Tageslicht. Wunderbar erhaben in seiner kühlen Unaufhebbarkeit ist er endlich mit Händen zu greifen: trotz aller überbordenden Fülle, die Augen und Ohren überfordernden Vielfalt, bleibt alles fragmentarisch, kalt. Dem Gewimmel der Fragmente fehlt das Ganze. Es verwandelt sich nicht. Bleibt einzeln, vereinzelt. Wird nicht mehr MEHR als die Summe seiner Teile. Unaufhörlich, unablässig, geradezu manisch verweist es nur noch auf das, was sie - die Fragmente - einstmals waren: In sich kohärente Systeme, komplexe Weltverständnisermöglichungen, Heimatbildungen, Wärmequellen. Jetzt bleiben nur noch „Verweise“, Straßenschildern gleich, denen das, was sie benannten, abhanden gekommen ist. Hinter alledem gibt’s keine „Ideen“ mehr, die einer „idealistischen“ (platonischen) Transzendenz entsprächen. Der Himmel (oder welche Jenseitigkeit auch immer gemeint sein mag) ist leer. Und niemand wird ihn - nach Auszug der Götter - je wieder füllen. -

 

Niemand wird das alles „verstehen“ - schon gar nicht bei einmaligem Anschauen / Anhören. Aber es ist genug intermediale Sinnlichkeit im Spiel, so dass „Verstehen“ eine überintellektuelle „Anschauung“ sein darf, also etwas dem Bildungswissen und zerebralen Muskeltraining entgegengesetztes. Wer sich einließe auf das WahrnehmungsSpiel bei dem nicht gleich alles zu „decodieren“ ist, nicht alles sofort und unmittelbar „Sinn“ ergeben muss, sondern entspannt bliebe bei der Begegnung mit den vielen Bild-, Klang- und Bedeutungssplittern, wäre einen großen Schritt weiter. Im nächsten und übernächsten Schritt könnte eben das nachgeholt werden. Es wäre freilich eine sehr komplexe und längere Zeit in Anspruch nehmende Aufgabe... - wie es das Lernen (oder weise-werden) eben ist: lifelong learning. Ohne Vertrauen auf unsere Fähigkeit „Welt“ oder „Gesellschaft“ übersprachlich, überintellektuell, überbegrifflich wahrzunehmen und wahrnehmbar zu machen, wäre das Projekt zum Scheitern verurteilt. Wenn es eine Aufgabe der Kunst gibt, dann die, DASS es möglich ist. Dies immer wieder ins Leben und Bewusstsein zu rufen - auch wenn Überforderung, Unwillen oder Ablehnung mögliche Reaktionen davon sind - ist unser Job. (Warum Wimmelbilder ausgerechnet in der Kinderbuchliteratur fröhliche Wiederauferstehung feiern, mag damit zusammen hängen, dass Kindern es (noch) ein leichtes ist auf Überbau und reflexive Zurschaustellung ihrer kognitiven Fähigkeiten zu verzichten. Sie sind ganz und gar aufmerksame Gegenwart und ihre Aufmerksamkeit ist ins wache Jetzt gerichtet. Ganz im wachen Jetzt lebend, gelingt ihnen leicht, was später mit viel Mühe wiedererworben werden muss: überbegriffliches Verstehen, Akzeptanz nicht-kohärenter Systeme, Sinnlichkeit, Achtsamkeit und Bewahrung einer sensiblen Wahrnehmung, die sich der Nivellierung individueller Eigenschaften, wie sie eine bloß an ökonomischer Effizienz

orientierte „Wirklichkeit“ fordert, nicht unterwirft.)

 

 

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* - vergl. die Gedichte von Joachim Ringelnatz, Christian Morgenstern, Helmut A. Pätzold u.v.a.